Maik Wolf

Stefan Bräuniger

Info Ausstellung

Realismus – Schein oder Wirklichkeit

Das deutsche Wort „Realismus“ geht auf den lateinischen Begriff realis zurück, der sachlich oder wesentlich bedeutet1. Der allgemeine Terminus „realistisch“ bezeichnet Werke, die ihre Sujets in der Wirklichkeit suchen. Damit scheint gesagt, dass es sich hierbei um wirklichkeitsgetreue Darstellungen der sichtbaren Welt handeln muss. Doch muss man sich im Hinblick auf die Arbeiten der Künstler dieser Ausstellung fragen, was Wirklichkeit überhaupt ist. Ist das, was wir sehen, die Wirklichkeit, oder spielt uns das Auge gelegentlich einen Streich? Gibt es etwas, das hinter der sichtbaren Realität liegt? Der Duden führt unter dem Stichwort „realistisch“ „lebensecht“, „naturgetreu“, „wirklichkeitsgetreu“ und „wirklichkeitsnah“ an, aber auch „fantasielos“, „illusionslos“ und „nüchtern“. Dass gerade die letzten Begriffe in keiner Weise synonym für die Arbeiten der aktuellen Ausstellung zutreffen, kann man ebenso feststellen wie den Umstand, dass beim Betrachten eines realistischen Kunstwerks der Schein bisweilen trügt. Realismus ist schon in der hellenistischen Kunst der Antike4 anzutreffen, bei der die Bildhauer zum ersten Mal eine getreue Abbildung im Gegensatz zu der idealen Stilisierung der vorangegangenen Epoche der Klassik anstrebten. Bereits hier bedeutete Realismus jedoch keine exakte Kopie der Natur, sondern Menschen wurden vielmehr dargestellt, wie sie erschienen. Damit blieb man bei der Wirklichkeit, ihr wurde jedoch vom Künstler die Wirkung des Vorbildes beigefügt, um einen bestimmten Eindruck zu erzielen. Realismus hat mit Refl exion des Künstlers zu tun, wie auch später in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts, in welcher der Realismus vor allem bekannt geworden ist. In dieser Zeit wurden Land und Leute, vor allem auch die unteren Bevölkerungsschichten, im alltäglichen Umfeld wirklichkeitsnah wiedergegeben und gleichzeitig wurde als Gegenentwurf zu Romantik und Idealismus gesellschaftliche Position bezogen. Zu erwähnen ist hier vor allem Gustave Courbet, der mit seinem Pavillon du Réalisme zur Pariser Weltausstellung 1855 diesen Stilbegriff prägte und über die äußere Erscheinung hinaus die vérité vraie, also gewissermaßen die innere Wahrheit, wiedergeben wollte. Beim Realismus geht es um die kritische Wiedergabe der Realität, bei der sich Darstellung und Interpretation des Künstlers mischen und bedingt durch die jeweiligen Seh- und Darstellungsgewohnheiten einer Epoche Zusammenhänge verständlich werden. Der Realismus ist selbst keine Epoche, sondern bezeichnet Strömungen, die durch die Kunstepochen immer wieder aufl ebten und sich im 21. Jahrhundert in neuen Tendenzen bemerkbar machen. Bei den Künstlern dieses Kataloges zeigen sich vielfältige Möglichkeiten, wie man heute realistisch arbeiten kann und manchmal entsteht dabei mehr Schein als Wirklichkeit. Auch muss man hier wohl zwischen realistischer Technik und irrealem Inhalt unterscheiden. Wenn ein Bild auf den ersten Blick wie ein Foto von der Natur aussieht, ist das noch lange nicht gleichbedeutend mit einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Motivs. Das ist nicht die Intention vieler Künstler.
Betrachten Sie beispielsweise die gekonnte, vermeintlich naturgetreue Malweise von Stefan Bräuniger und stoßen dabei in dieser perfektionierten Natur auf Ungereimtheiten im Bild, wenn etwa botanisch nicht zu vereinbarende Pfl anzenteile kombiniert werden. Oder lassen Sie sich von der lebensecht wirkenden Figuren von Simone Haack beeindrucken und stellen plötzlich fest, dass das Bekannte durch den rätselhaften Gehalt entfremdet wird. Die Gefühlswelt des Betrachters, seine Erinnerungen und Erfahrungen, werden immer wieder mit einbezogen. So auch bei Nicola Hanke, die mit ihren Stoffen, die in ihren Gebrauchsspuren eine Geschichte tragen, Beziehungen zwischen Menschen, sowie subjektive Empfi ndungen und Reminiszenzen des Betrachters thematisiert. Auch bei Mathias Otto spielen Erfahrungen des Betrachters eine große Rolle. Hier beeinfl usst das Licht die Stimmung, lässt Vertrautes fremd erscheinen und den Betrachter das geheimnisvolle Dasein in der Schönheit der zur Ruhe gekommenen Welt bei Nacht ergründen. Um Licht geht es auch in den Bildern von Kim Reuter, die Atmosphäre, die es übermittelt. So wird für jeden Bildpunkt der jeweilige Licht- und damit Farb- und Stimmungswert aufgespürt. Anne Wölk kombiniert in ihren realen Versatzstücken märchenhaft-schillernde Farben und phantastisch-irreale Szenerien, was eine Verflechtung von Realität, Imagination und malerischer Konstruktion hervorruft. Bei ihrer Schwester Nadine Wölk sind es wiederum Nachtstücke, jedoch mit völlig anderer Aussage. Sie gibt das Nachtleben der jungen Generation, ihrer Generation, wieder und ruft beim Anblick den Gedanken hervor: So war das damals, in der eigenen Jugend, als der Ernst des Lebens noch in weiter Ferne schien. Auch Ruth Bussmann thematisiert den Menschen. Ihre anonymen Figuren wandeln jedoch in abstrakten, leeren Farbräumen, die Isolation kann emotional erfahren werden. Heute kommen vielfältig banale Motive zum Einsatz, um diese durch die Mal- und Bearbeitungsweise und vor allem durch den Inhalt zu nobilitieren, ihnen wird sonst eher unübliche Aufmerksamkeit geschenkt. Häufig wird die Hand des Künstlers nicht verleugnet, im Gegenteil, Farbnasen, ein kräftiger Duktus und nicht geglättete Skulpturen und Plastiken zeigen den artifi ziellen Charakter und thematisieren auch das Material. Künstlerische Ausdrucksformen verschmelzen mit Inhalten. So ist es bei Clemens Heinl, der Porträts aus Holz schafft, und zwar mit einer Kettensäge. Seine Figuren erlangen gerade durch ihre Körperlichkeit, die nicht dem Idealbild oder der Vorstellung einer perfekt geglätteten Oberfläche entsprechen, ungemeine Präsenz. Sie haben gerade wegen ihrer Ecken und Kanten Charakter – wie die Menschen selbst. Auch bei Mathias Weis bringt erst der deutlich erkennbare Pinselstrich Spannung ins Bild. Der Duktus ist es, der die Bilder aus der Ferne wie naturalistische Abbilder erscheinen lässt – man beachte die gekonnte Wiedergabe von Lichtrefl exen auf Gefäßen –, aus der Nähe jedoch die Motive geradezu abstrakt zerfallen lässt. Abstraktion und Gegenständlichkeit gehen heute vielfach eine eigentümliche Verbindung ein und man muss erkennen, dass ein Motiv durch das Herantreten nicht gleich besser erkennbar ist. Dieser Effekt tritt auch bei Marina Schulze ein. Die riesigen Formate mit kleinsten Ausschnitten der Natur – Pilzlamellen und menschliche Haut – erfordern ein Zurücktreten, um besser begreifen zu können. Auch bei ihr geht es um das, was unter der Oberfl äche, unter der Epidermis liegt. Netzstrümpfe über nackten Beinen und felsspaltenartige Pilzlamellen entwickeln darüber hinaus höchste räumliche Wirkung und fast abstrakt-ornamentale Qualität. In gewisser Weise geht es auch bei Oliver Czarnetta um das, was unter der äußeren Hülle liegt. Er präsentiert mit dem modernen Material Beton ineinander geschachtelte Häuschen und damit den Gegensatz raumschaffender und raumverstellender Kunst.

Viele der Arbeiten tragen keinen Titel. Diese fehlende Hilfestellung der Künstler löst eine besonders eingehende Beschäftigung mit dem Kunstwerk selbst aus und bezieht die Vorstellungskraft des Betrachters unmittelbar mit ein. In der heutigen Kunst geht es um das Betrachten und Nachspüren von Atmosphäre und Stimmung, um das Vorführen künstlerischen Könnens und Ausdruckskraft und um das Ausloten des verborgenen Potentials der Realität. Jeder Betrachter muss dann individuell für sich herausfi nden, wie viel Schein sich in der Wirklichkeit verbirgt.

Nina Hartgenbusch, M.A.