Marina Schulze
Ohne Titel (P XXVII), 2010, Öl und Acryl auf Nesse
Ohne Titel (P XXIV), 2009/10, Öl und Acryl auf Lei
Ohne Titel (P IV), 2008, Öl und Acryl auf Leinwand
Ohne Titel (SB XVI), 2007, Öl und Acryl auf Leinwa
Marina Schulze
Die Motive in den Bildern von Marina Schulze sind so stark vergrößert, dass es manchmal nicht sofort gelingt, die Darstellung zuzuordnen. Dabei handelt es sich um einen fl ächenfüllenden Ausschnitt, der das gemalte Objekt sehr nah heran holt. Die damit erzeugte Nähe zum Detail erfordert eine Distanz zum Bild, um das gesamte Sujet zu erfassen. Die riesigen Formate mit den sorgfältig bis in kleinste Einzelheiten gemalten Formen erfordern, einen Schritt zurück zu treten. Zu sehen sind zunächst eigentümliche Strukturen: Lamellen, Netzgewebe, wellig-hügelige Gebilde wie unter einem Mikroskop, die das gesamte Bild flächenfüllend bedecken. Die Darstellung scheint auf dem schmalen Grad zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit zu liegen. Bei eingehender Betrachtung zeigt sich: Es sind vor allem Abbildungen menschlicher Haut, die den Körper wie eine schützende Hülle umgibt, aber auch von der Außenhaut von Pilzen als eine andere Art von Oberfl äche. Dieser Sorte von Oberflächen ist gemeinsam, dass sie einen Körper lückenlos um- und nach außen hin abschließt. Es ist die Grenze zwischen Organismus oder Gegenstand und seiner Umgebung und gleichzeitig wird seine Form durch sie bestimmt.
Die Künstlerin spielt auch mit Perspektiven: Mal zeigt sie eine radikale Draufsicht, dann wieder befindet sich der Betrachter unter einem Objekt. Diese Position unter einem Pilz, der ins
Riesenhafte vergrößerten ist, verschafft eine völlig neue und ungewohnte Sichtweise der Dinge. So präzise und scharf gezeichnet konnten die kleinen und unscheinbaren Objekte der Umwelt noch nie wahrgenommen werden. Als Betrachter staunt man über die akribische, malerische Kunstfertigkeit in diesem großen Format, wobei jedes Detail Beachtung fi ndet und gewissermaßen hautnah erlebt werden kann. Wie eine zweite Haut zieht sich manchmal ein Netzstrumpf über ein Bein, immer jedoch ist die Epidermis darunter sichtbar. Der winzige Höhenunterschied dieser zwei Schichten, Haut und Strumpf, ist dabei dermaßen gesteigert und intensiviert, dass die gemalte Struktur Bewegung ins Bild zu bringen vermag und große räumliche Wirkung besitzt. Zudem haben die so entstandenen graphischen Muster fast schon abstrakt-ornamentale Qualität. Bei diesen Darstellungen spielt die Künstlerin mit dem Ver- und Enthüllen menschlicher Haut, grobmaschige Strümpfe und auch Laufmaschen bieten Oberfl ächenreize der besonderen Art. Auch unter der unbestrumpften Haut ist etwas sichtbar: Die Künstlerin betont die durchscheinende Qualität, so dass Adern und kleine Blutgefäße hervortreten. In den Wasser-Bildern sprudeln klare Bäche über Gestein und gewähren durch ihr frisches Blau den Blick auf den Grund. In den Bildern von Marina Schulze geht es immer auch um das „Darunter“: Was zeigen die Oberfl ächen, was verbergen sie und was wird dennoch durch sie sichtbar? Was lässt sich darunter erahnen? Was liegt unter der obersten Schicht: dem Strumpf, der Haut, der Hülle der Pilze, dem Wasserspiegel? Das ist es, was die Künstlerin umtreibt. Laufmaschen, zerstörte Pilzlamellen und durchscheinend dünne Haut verdeutlichen aber auch, wie verletzlich diese Oberfl ächen sind, wie leichte Berührung Schaden anrichten kann. Marina Schulze hat ihnen mit ihrer ästhetischen Malerei höchste Sorgfalt angedeihen lassen. Die Darstellung von Räumlichkeit ist eine besondere Qualität dieser Bilder. Nicht nur Netzstrümpfe liegen wie eine Ebene im Vordergrund über der Haut, vor allem die Pilze entwickeln enorme Tiefenwirkung. Die in der Realität so kleinen Lamellen eines Pilzes wirken zuweilen wie riesige Felsspalten, deren Schluchten unendlich scheinen. Fast schon bedrohlich ragen scharf wirkende Kanten empor und offenbaren schwarze Abgründe. Leuchtende Neon-Farben steigern den räumlichen Eindruck. Diese Partien scheinen geradezu aus dem Bild heraus auf den Betrachter zu zukommen – sie springen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge.
Allen Arbeiten ist gemeinsam ist, dass sie keinen Titel tragen. Dies ist sowohl nützlich als auch hinderlich. Ist im ersten Moment die fehlende Hilfestellung der Künstlerin störend, so kommt dann jedoch ein Denkprozess in Gang, der sonst ausgeblieben wäre. Mangels klärender Titel ist man auf die eigene Vorstellungskraft angewiesen und beschäftigt sich umso stärker mit der Darstellung, um den Inhalt zu ergründen. Auf diese Weise kann das Bild noch genauer erfasst werden. Gerade die spontane Nichteindeutigkeit lädt die Bilder mit Spannung auf. Ungewohnte Blickwinkel und die Vergrößerung ermöglichen völlig neue Ansichten von alltäglichen Objekten und es wird ihnen eine sonst eher unübliche Aufmerksamkeit geschenkt. Als Betrachter steht man überwältigt vor diesen riesigen Formaten mit den sorgfältig bis in alle Einzelheiten gemalten Formen und leuchtenden Farben und staunt über die Wunder der eigenen Umgebung und die Kunstfertigkeit der Malerei. So tun sich in diesem Kosmos wie unter einem Vergrößerungsglas neue Welten auf.
Marina Schulze wurde 1973 in Delmenhorst geboren. Von 1991 bis 1994 absolvierte sie eine Ausbildung als Schauwerbegestalterin. In den Jahren 1996 bis 1998 folgte ein Studium der Freien Kunst an der FH Ottersberg und 1999 bis 2004 ein Studium an der Hochschule für Künste Bremen bei Prof. Karin Kneffel und Prof. Katharina Grosse. Im Jahre 2003 studiert sie außerdem an der Iceland Academy of the Arts Reykjavik, Island. Marina Schulze war 2004/05 Meisterschülerin bei Prof. Karin Kneffel und 2006 zu einem Arbeitsaufenthalt in New York, USA. Sie erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipendien, so 2001 bis 2005 eine Studienförderung durch das Cusanuswerk in Bonn, 2001 unter dem Titel „Nordwestkunst 2001“ den 1. Preis der Kunsthalle Wilhelmshaven, 2004 bis 2005 ein Wohn- und Arbeitsstipendium der Künstlerstätte Stuhr-Heiligenrode, 2006 das Residenz Stipendium Berlin vom Senator für Kultur, Bremen, 2007 ein DAAD Reisestipendium für Graduierte in Island und 2009 erreichte sie den 2. Platz beim 1. Nordseekunstpreis Spiekeroog, Künstlerhaus Spiekeroog. Seit 1999 ist Marina Schulze bei zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten.